Die Luft ist so klar, dass selbst Viren unbehelligt umherschwirren. Ruckzuck fange ich mir, wie alle anderen auch, eine Erkältung ein. Schließlich ist Frühling. Und im Frühling treibt es bekanntlich alle hnaus ins Freie, Menschen wie Viren.
Im Garten blüht keine einzige Blume, und das Schreckgespenst in meinem Kopf hat sich verflüchtigt. Also überlege ich, einen Abstecher in die Gärtnerei zu machen, auf dem Weg zum Markt. Ich brauche Weißkohl und Orangen, und vielleicht hole ich auch gleich ein paar Falafel-Sandwiches. Ein ausgezeichneter Plan für diesen sonnig-warmen Tag.
Um Punkt neun Uhr verlasse ich das Haus. Ich will gerade das Auto aufschließen, mit dem ich, nebenbei bemerkt, schon ewig nicht mehr gefahren bin, da sehe ich auf dem Griff der hinteren Tür eine Heuschrecke sitzen. Aber ich lasse mir die Laune nicht verderben. Immerhin ist der Strom wieder da.
„So, Tür auf, ich will einsteigen“, rufe ich energisch, um die Heuschecke zu vertreiben. Von wegen. Sie lässt sich nicht beirren.
„Summ, summ, summ, Bienchen summ herum!“, singe ich. Als ich den Wagen starte, merke ich, dass der Rückwärtsgang eingelegt ist, dabei will ich gar nicht rückwärts fahren. „Summ, summ, summ.“ Ich bewege mich nicht
von der Stelle. „Summ, summ, summ.“ Nein, nicht rückwärts. Am Ende gebe ich mich geschlagen. Ein kleiner Transporter, voll mit alten Möbeln, muss meinetwegen anhalten. „Kleiderschrank, Sofa, Heizofen!“, preist der Mann auf der Ladefläche unüberhörbar seine Ware an.
Ein Fußgänger kommt hinzu und mischt sich ungefragt in mein Fahrmanöver ein. „Zurücksezen. Gut. Ja, gut so.“ Mir fällt auf, dass er einen schiefen Mund hat, und taub ist er offenbar auch. Ich hebe die Hand zum Abschied, doch er erwidert die Geste nicht, denn sein Gehstock hat sich zwischen zwei Pflastersteinen verhakt.
Unterwegs schießt mir durch den Kopf, dass die Handwerker heute kommen wollten. Naja, der Typ, der den Abfluss reparieren soll, erscheint sowieso nicht pünktlich, so unzuverlässig wie er ist. Aber der nette Klempner steht garantiert schon vor der Tür, immerhin kriegt er noch Geld. Ich greife zum Handy und sage beiden Bescheid, dass ich erst in einer halben Stunde wiederkomme.
Die halbe Stunde verstreicht, und auch eine weitere halbe Stunde, am Checkpoint. Schon fast Mittag, nicht zu fassen. Ich esse ein paar geröstete Sonnenblumenkerne und trinke Wasser aus der Flasche. Dann sehe ich plötzlich Nelken. Seit zwei Monaten versuche ich, Nelken zu bekommen. Endlich gibt es welche, großartig! Sofort trete ich auf die Bremse, springe ins Geschäft und lasse mir ein paar Setzlinge zurücklegen. Ich hole sie auf dem Rückweg ab, verspreche ich dem Gärtner. Als ich gerade weiterfahren will, steht da doch tatsächlich ein Pfau. Ich kann nicht anders und steige wieder aus. Bei der Gelegenheit bestelle ich gleich noch Narzissen.
„Summ, summ, summ.“
„Zurücksetzen, zurück! Noch ein Stück!“ Wieder so ein Typ, der mich vor aller Augen blamiert.
„Summ, summ, summ ...“
„Stopp! Lenkrad einschlagen. Stopp. Ein Stück zurück. Gut so.“
Er hat keine Ohren, keine Haare, und ihm fehlt ein Fuß. Wahrscheinlich war er einmal Taxifahrergehilfe, bevor eine Autobombe ihn so zugerichtet hat.
Hier geradeaus geht es zur Bäckerei mit dem leckeren Weißbrot, überlege ich und kurbele die Fensterscheibe hoch,um mich vor dem Staub draußen zu retten. Eine Trillerpfeife ertönt. Angenehm, fast melodisch klingt sie. Kurz vor der Kreuzung sehe ich sie dann auch - am Hals eines Polizisten baumeln. Am Gürtel trägt der Ordnungshüter eine Pistole.
Ein paar Meter weiter, auf einer Baustelle, ist ein Arbeiter zugange: Real Madrid hätte das Spiel vier Minuten vor Abpfiff gewinnen können! Aber der Ball prallte am Torpfosten ab. Das Team ist einfach nicht in Form. Mit so einer Schlappe hätte keiner gerechnet, also wirklich …
Schwer donnert die riesige Walze über die Straße, schiebt überschüssigen Teer rechts und links zu Haufen auf und hinterlässt eine Fahrbahn so glatt wie ein ausgerollter Hefeteig. Der Walze sei Dank! Ohne sie wäre ich die alte Strecke gefahren und hätte nie entdeckt, dass die Galerie, die nach dem Krieg viele Jahre geschlossen war, wieder geöffnet ist und so einiges im Sortiment hat. Bilder von Pferden, Talismane, Hufeisen und eigerahmte Koranverse. Unweit davon ein Möbelhandel unter freiem Himmel. Aber nur freitags. An allen anderen Tagen keine Spur von dem Geschäft. Schade, dass ich in Eile bin, sonst würde ich aussteigen und ein bisschen stöbern.
Moment, hier waren doch irgendwo die Läden, in denen man Honig und Kringelgebäck bekommt. Und die Ramschbuden und Billigwarenparadiese, wo sind die geblieben? Wahrscheinlich bin ich denen schon vorbeigefahren. Aber wer sagt´s denn, Abd Abu al-Barek. Sitzt da in seinem Rollstuhl und macht mir Zeichen: Ich soll zurücksetzen.
Die monströse Heuschrecke hockt immer noch auf dem Türgriff. Bizarr, gruselig. Im Rückspiegel sieht sie aus wie das erste Flugzeug voller US-Marines, das auf einem Flugzeugträger im Persischen Golf gelandet ist. So eine Maschine transportierte auch Bush immer vom Weißen Haus zum Sitz
der Vereinten Nationen, in knapp einer Stunde. Und schon habe ich die Heuschrecke wieder aus meinem Sinn gestrichen.
Ich fahre an der berühmten Rabaat-Bäckerei vorbei. Zwischen Ramsch- und Milchladen steht seit neuestem ein Checkpoint. Ich halte an. Es geht doch nichts über Plastikblumen auf einem Betonquader. Daneben ein rauchender Soldat. Hinter ihm prangt „Die Armee, Verteidiger von Heim und Vaterland!“ Wie beruhigend, da kann man sich entspannt zurücklehnen. Vor allem, weil sich die Szene in einem fort wiederholt, zigmal in der Minute, tagein, tagaus an sämtlichen Tagen im Jahr sucht der Soldat mit dem Detektor nach Sprengstoff. Gleich neben ihm ein Verstümmelter. Der Soldat genießt sichtlich die Macht, die ihn befugt, jeden Passanten zu kontrollieren. Beim Blick in den Ausweis lacht er und verzieht merkwürdig den Mund, dass man den Eindruck gewinnt, er könne nicht lesen. Der Verstümmelte tritt an meinen Wagen. Hastig schließe ich das Fenster. Ich will es nicht wissen, will nicht wissen, warum er bettelt. Aber er lässt sich nicht abweisen. Durch die
Scheibe zeigt er mir seinen Arm, oder besser gesagt den am Ellbogen endenden Stumpf. Dann wendet er sich dem nächsten Auto zu. Heraus schaut ein Kind mit Downsyndrom, glückselig, als schwebe es im siebten Himmel. Währenddessen singt Nazem al-Ghazali: „Ich liebe dich, liebe jeden, der dich liebt … Ich liebe die Rose, so rot wie deine Wangen.“
Elf Uhr, fast Mittag. Die Luft heizt sich auf, es wird immer wärmer, brütend heiß wie die
Hölle. Eigentlich wollte ich noch Obst und Gemüse einkaufen. Aber ich halte nicht an, verzichte freiwillig auf alles. Weißkohl, Orangen und die Bananen, auf die ich heute Morgen so einen Heißhunger hatte. Auch die Pflanzen schlage ich mir aus dem Kopf. Elende Hitze, die raubt mir noch den letzten Nerv. Herrgott, ist die Bremsschwelle hoch! Dagegen waren die letzten zehn ein Kinderspiel. „Die Rebellen in Brega kämpfen unerbittlich und haben Misrata zurückerobert“, sagt der Nachrichtensprecher. Also haben die Rebellen Misrata wieder im Griff. Außerdem haben sie einen Hubschrauber abgeschossen und die Flugabwehrraketen erbeutet … Deraa
rebelliert … Aden …
brodelt? Ja, brodelt.
Die Monsterheuschrecke ist immer noch da, unglaublich. Wenigstens bin ich nun endlich am Falafel-Imbiss. Der Besitzer, Said heißt er, ist wirklich ein kleines Dreckschwein. Er muss niesen. Und was macht er? Wischt sich die Nase am Ärmel. Naja, was sollte er sonst tun, schließlich hält er in der Hand ja Geld und keine Taschentücher.
„Wie wär´s mit Gummihandschuhen, Said?“
„Der Junge holt sofort welche aus der Apotheke, versprochen! Amba oder Soße?“
„Bitte nur Amba.“
„Pepsi oder Saft?“
„Pepsi und Saft.“
„Gibt´s beides schon lange nicht mehr.“
Summ, summ, summ, Bienchen summ herum.
Ein dicker Junge hockt auf dem Bürgersteig und drängt mir seine Hilfe auf: „Noch etwas zurück, ja, und jetzt näher ran an die verpisste Mini-Mall.“
Als ich zu Hause ankomme, wartet der nette Klempner bereits vor der Tür im Schatten. Heute mal nicht in Militäruniform. Die hat er wohl in den Müll befördert.
Klopf klopf. „Macht auf, Kinder, Mama ist wieder da.“ Klopf klopf. „Nun los, macht die Tür auf!“
„Nein!“
„Ich bin´s, Mama!“
„Bist du nicht.“
„Verdammt noch mal, nun macht schon auf! Ich bin nicht der böse Wolf.“
„Beweisen! Streck den Fuß unter der Tür durch.“
„Schluss jetzt! Kommt raus und helft mir.“
Die Tür öffnet sich.
„Holt die Sachen ins Haus, bevor der Klempner anfängt. Wartet er eigentlich schon lange?“
„Der steht da schon eine Stunde mit der Zange rum.“
Ich gehe noch einmal hinaus, um das Auto abzuschließen, und traue meinen Augen nicht. Die Heuschrecke! Sie sitzt immer noch da. Ein echer Alptraum. Widerliches Viech, könnte man auch sagen. Brutstätte abertausender Eier – eine weitere Umschreibung. Gigant mit grünem Panzer – noch eine Umschreibung. Zähe Bestie, überquert das Rote Meer ohne Zwischenstopp – auch eine Umschreibung. Macht einen Höllenlärm mit den Beinen und Flügeln, die immerzu am Körper schubbern. Die reinste Fressmaschine. Ihr Leben eine nahtlose Aneinanderreihung zerstörerischer Gelage. Sie hat im Maul nicht etwa Zunge und Zähne, sondern Finger, entsetzlich. Der Frühling ist herrlich, keine Frage. Aber das weiß sie besser als jeder andere. Ein
Schwarm ihrer Spezies vertilgt auf einen Schlag so viel wie die gesamte Bevölkerung Bagdads in einem Monat. Großer Gott! Und wenn dieses Ungeheuer geschlechtsreif wird … Der Panzer färbt sich gelb. Und nach der Paarung frisst das Weibchen dem Männchen den Kopf weg. Einmal kräftig mit den Hinterbeinen abgestoßen, startet sie eine Attacke in riesigen Schwärmen, die aussehen wie dunkle Wolken. Widerwärtig. Und im Zeichentrickfilm wird sie einem zu allem Übel als Dirigent präsentiert!
Im Biologiebuch stehen unter ihrer Abbildung noch viel mehr empörende Fakten. Gnadenlos richtet sie alles zugrunde, wobei die Jungen mindestens so gefährlich sind wie die Ausgewachsenen. Auf der Arabischen Halbinsel gilt sie als Delikatesse und wird mit Vorliebe Ehrengästen serviert. Die Heuschrecke frisst wahllos jede Pflanze. Sie vertilgt das Dreifache ihres Körpergewichts an Blättern. Platsch: Ein Blatt in den Gully. Platsch: Eines in den Kanal. Weg damit!
Inzwischen hat der Klempner den Wasserhahn im Bad repariert. Ich gebe
ihm seinen Lohn, er steht noch eine Weile im Schatten herum, dann geht er.
„Summ, summ, summ …“ Die Rebellen haben Rakten aus dem zerstörten Hubschrauber erbeutet und Misrata eingenommen. Die Nato bombardiert das Gebiet um Tripolis, Misrata fällt den Gaddafi-Milizen wieder in die Hände. Und die Monsterheuschrecke sitzt unverändert auf der Autotür.
Den ganzen Tag hockt sie dort. Am Abend ist sie verschwunden. Wo ist sie nur? In ihre Einzelteile zerlegt. Ameisen, eine ganze Kolonne davon, schaffen Gliedmaße um Gliedmaße in einen Sandhügel, der Krater hat wie ein Vulkan. Das ist die letzte Möglichkeit, dieses Viech zu beschreiben am perfekten Ende eines frühlingshaften Tages.
deutsch von Jessica Siepelmeyer
zuerst erschienen in:
Birgit Svensson (Hg.): Mit den Augen von Inana. Verlag Hans Schiler, Berlin/Tübingen 2015