Reizklima

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Reizklima

Die gegenwärtige Krise stellt den Einzelnen vor harte Herausforderungen und die Gesellschaft vor Fragen, die das Selbstverständnis – und die scheinbare Selbstverständlichkeit – der Demokratie berühren. Zerbrechlichkeit und Gleichgewicht sind die Begriffe, die sich für viele damit verbinden. Eric Ondrejicka umkreist sie in zwei Gedichten, die hier auch in englischer Übersetzung zu lesen sind.

Doch so gravierend die Pandemie sich auf das Leben auch in Deutschland auswirkt, so wichtig bleiben die Probleme, die es zuvor schon gab. Sam Zamriks Gedichte erzählen davon, wie es ist, „foreign“ zu sein, „ausländisch, fremd und befördert / zu einem unbilligen Tarif“. Der in Beirut lebende Mohamad Nassereddine tauscht im tiefen Schlaf den Platz mit einem toten Freund. Maysaloun Hadi erzählt von einem ganz alltäglichen Tag in Bagdad. Von Asuka Grün und Marina Friedrich gibt es einen Auszug aus ihrer Comic-Reportage, in der sie der ersten Klimaklage der Welt nachgehen, und der chilenische Künstler César Olhagaray setzt eines seiner Gemälde in einem Video unter dem Titel „Die Epoche bringt eine Explosion zur Welt“ in Szene.                                                                                                                                                           

ASUKA GRÜN: Reizklima





SAM ZAMRIK


Rückschritt

        Ich bin nur ein Kind—
        weißt Du—mit
        l—a—n—g—e—n  Beinen, und
        einer
        nichtausreichendweiten Brust—
                   gekrümmten Schultern—
Knien, die immer schlackern—
         Nerven, die zwischen
Strenge     und         Drang
         eingeklemmt sind—

         Augen, die sich vor allen
         verstecken wollen
         (aus gutem Grund)—

         Herz und Haut,
         die zittern, immer
         nach jedem Wort.

         Ich habe zu wenig
                    Kraft, um mich HOCHzuziehen.
         Ich stehe FAST auf, und
falle
         doch wieder
                    dorthin
zurück,
         wo ich aufgewachsen bin.





































Apathy

I stare into high noon.
I see the fight in the wide white disk
of the sun, diffusing ray upon ray
of its cosmic fission.

It gives me vision, 
and takes it away.

From mountains
to flatlands fled
I, foreign, and ferried
for an unfair fare
across woods
and seas.

The black cloud
right beneath my skin
does not let me breathe.

Though content
with godsent joys,
I cannot smile.
All the while,
I turn my graceless,
charred face
from love and from
all the warmth
at finger's reach.

Each day,
this brain frays;
this mesh of flesh
does more decay.

Apathie

Ich starre in den Mittag.
Ich sehe den Kampf in der weiten weißen Scheibe
der Sonne, ihre Strahl um Strahl versprenkte
kosmische Aufspaltung.

Sie gibt mir eine Vorstellung
und nimmt sie fort.

Vor Bergen
ins Flachland floh
ich, ausländisch, fremd und befördert
zu einem unbilligen Tarif
durch Wälder
und über Meere.

Die schwarze Wolke,
gerade noch so unter meiner Haut,
lässt mich nicht atmen.

Obgleich zufrieden
mit gottgegebenen Freuden,
bin ich nicht heiter.
Immer weiter 
wende ich mein gottloses,
verkohltes Gesicht ab
von der Liebe und von
all der Wärme
in Fingerreichweite.

Dieses Geflecht Gehirn,
zerfranst tagtäglich,
dieses Gestirn aus Fleisch
verdirbt allmählich.
Hazy Gaze

        The great brown mountaintops
were melting into meadows
and ridged plains overflowing
with their own substance
in a thick stream growing
thicker under the heat.
        A great scythe in the sky
unraveled more of the earth
and dug deeper into its roots,
reducing their very soul
to the heap of lumpy mud
whence they came.
       The sky was lit
by luminous eyes
projecting light rays
as plenty as days,
and thereupon each
perched a songless deformity
meddling with what it lit.
       Now,
what if the scythe were
my tablespoon,
the mountaintops were on my plate
and it were a plastic plateau?
       Were these eyes mine,
they would not shine—
only see and suspect
a gateway to introspect.
       What if the earth were
my foregone lover,
or my mother?
       What if...
what if it were chocolate,
this liquid subject
and hazy object
I nigh perceive?   

Benebelter Blick

       Die großartigen braunen Berggipfel
zerschmolzen zu Wiesen
und zerfurchte Ebenen, übervoll
mit ihrer eigenen Substanz,
zu einem mächtigen Strom, mächtig
verdickt unter der Hitze.
       Eine großartige Sense am Himmel
enschleierte mehr von der Erde
und grub sich tiefer in ihre Wurzeln,
schnitt ihre Seele 
zurück bis auf den klumpigen Haufen Schlamm,
aus dem sie kamen.
       Der Himmel brannte 
von leuchtenden Augen,
die Lichtstrahlen warfen,
zahlreich wie Tage,
und jeder ließ sich auf
eine liedlose Unförmigkeit herab, 
mischte sich mit dem, was er entzündete.
       Nun,
was, wenn die Sense
mein Esslöffel wäre,
die Berggipfel auf meinem Teller
und der ein Hochplateau aus Plastik?
       Wären diese Augen meine,
sie würden nicht glänzen—
nur sehen und etwas ahnen,
ein Einfallstor der Selbstprüfung.
       Was, wenn die Erde
meine aufgegebene Geliebte wäre
oder meine Mutter?
       Was, wenn …
was, wenn es Schokolade wäre,
dieses flüssige Subject
und vernebelte Objekt,
das ich beinahe erkenne?

                                                                                   deutsch von Sylvia Geist

ASUKA GRÜN

& MARINA FRIEDRICH


"Saúl Luciano Lliuya lebt mit seiner Familie in Huaraz, einem kleinen Ort in den Anden Perus. Seit Jahren wird seine Heimat von den Wassermassen eines abschmelzenden Gletschers bedroht. Ursache ist die klimawandelbedingte Gletscherschmelze. Im Laufe der Jahre hat sich ein gewaltiger See gebildet, eine Flutwelle, ausgelöst durch Lawinen, kann jederzeit ins Tal abgehen und Huaraz zerstören.
Um sich und seine Familie zu schützen, reichte Saúl 2015 eine Klage gegen den deutschen Energiekonzern 
RWE ein.

"0,47% - Die erste Klimaklage"

Eine Comicreportage (Auszug)


Das Landgericht Essen stufte sie als „Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung“ eingestuft wurde, womit sie als weltweit erste Klimaklage nicht abgelehnt wurde.

Doch warum verklagt ein peruanischer Bauer ein deutsches Unternehmen?
0,47% der CO2 Emissionen weltweit stammen von RWE. Saúl fordert deshalb 0,47% der Kosten für die Schutzmaßnamen von RWE. Darauf beruht die Klage."


"Wir haben durch eine Zusammenarbeit mit dem UfU Institut Berlin von diesem Fall erfahren.
Die Anwältin von Saúl lebt in Hamburg, also haben wir uns zuerst mit ihr getroffen, ein Interview geführt. So ging es los. Für unsere Comicreportage reisten wir bis nach Peru, um mit den Betroffenen zu sprechen und eigene Eindrücke zu sammeln."



[ ... ]




"Die Klage ist noch nicht abgeschlossen, das Verfahren dauert an.

Wir werden die Entwicklung weiterhin verfolgen und planen eine Fortsetzung der Comicreportage."

CHARL-PIERRE NAUDÈ


ʼn Tyd vir sprakeloos
           
Dit lyk nou na ʼn straf,
die gekoesterde samelot,
na iets om te vermy.

Dis oral rondom,
ek adem, sterf daarvan: politiek.

Ek is siek   
van die manier waarop alles verword het,
na dít:

’n gesmokkel in openbare plekke
van hamers in watte toegedraai,
bekkige draaiswingels;

en doen-dit-self
toestelle
(een grootte vir ieder),
uitgedeel
by partysaamtrekke
om wolhaarstories by die huis mee te gaan opkirts

van die onskryfbare, afgeskrewe,
van waarheid bevryde
woord.

Verneukspul.
Bedrog.
Plundering.

En vandag is nog een
van daardie roemryke dae, herdenkings-
dae met hul skone, verdorwe name:
Heldedag, Vryheidsdag, Dag vir Gestremdes,
Nasionale Omgedraaide Vullisblikdag.
Dag van die Staatshoof se Drolplanting.

En toevallig, wraggies,
is dit ook Vrouedag.
En al wat ek begeer is om alleen te wees.
Wat ʼn fees!
Dis waarvoor vroue daar is, soms,
nie waar nie?
Die heiligheid dáárvan!
Natuurlik sal ek soos dit hoort
aan hierdie brengers van gawes dink.
Maar, in Vadersnaam: sonder woorde.

Het ek die noodlot,
enige vrou, by die naam genoem?
Dan was dit seker maar my gedagtes.

Ek loop die strate in
vir ʼn wandeling.
ʼn Wind word in die wydheid opgeklits

en met gewiekte gulhartigheid
en baie teer,
plak dit ʼn warm
nat blaar
op my wang.
Niks anders as diplomasie,
verdomp politiek nie.

Hoe kan ek op dit alles antwoord?

Ek weet van ʼn huis
verder in die wyk af,
onlangs met planke toegeslaan.
Die breek- en die silwerware
is in dik pluise koerantpapier toegedraai
en die kratte toegespyker.

Niemand het die die geraas
van druksinne nog gelees nie
aangesien niemand ’n snars meer omgegee het nie,
tog had dit ʼn funksie.

Die pakkers het met drif te werk gegaan
terwyl die eienaars toekyk.
Daarna het almal inderhaas vertrek.
ʼn Wedloop teen die tyd.

Maar eendag sal die erfgename terugkom
na hul erfenis toegeplak
in verbleikte leuens

en met trane in die oë
die porselein weer uitpak.




A time for no words
           
It now seems a punishment,
the cherished collectivity,
a thing to avoid.

It’s all around,

I am breathing, dying of it: politics.

I am sick   
of the way things have become,
this:

a public smuggling of hammers in cotton wool;
a cache of noisy turn-handles,

do-it-yourself tools
(one size fits all),

distributed
at party rallies to take home and hoist up
tall truths

of the un-writ, written off,
truth-rid word.

Deceit.
Fraud.
Plunder.

And, today
is another one
of those famous days, commemorative
days with their beautiful, corrupted names:
Heroes Day, Freedom Day, Day for the Disabled.

National Upturned Dustbin Day.
Day of the Presidential Turd.

It happens to be National Women’s Day.
But all I want is to be alone.
What a feast!
What women are there for, at times?
The sanctity of that.   
Naturally I’ll think of these givers of gifts,
 
But, in God’s name: without words.

Did I mention fate,
reference a particular woman?
Then it must have been my thoughts.

I walk into the street for a stroll.
A wind is being whipped up

and with winged generosity
it sticks
a wet leaf
gently on my cheek.
Damn such politics,
it’s nothing but diplomacy.

What can one say to this all?

I know of  a house

down the street, recently boarded up.
The crockery and the silver is tied
in thick wads of newspaper,
and cased in boxes.
Nobody had read the noisy print, since nobody cared,
but it had a function.

The workmen worked fast,
while the owners stood by.
Then everybody had to leave in haste.
For it is a race against time.

But one day the heirs will return
to their heritage pasted in faded lies.
and with tears in their eyes

unwrap the porcelain.
 











Zeit für Sprachlosigkeit

Jetzt sieht es wie eine Strafe aus,
das geschätzte Miteinander, 
etwas, das man vermeiden sollte. 

Sie ist überall,
ich atme sie ein, gehe ein an ihr: Politik.

Ich hasse sie,
die Art, wie die Dinge gelaufen sind,
so:

der allgemeine Schmuggel von Hammern in Watte; 
ein geheimes Lager voll lärmiger Drehgriffe

und Do-it-yourself-Werkzeugen
(eine Größe für alles),
ausgegeben 
an Parteitagen, um hohe Wahrheiten 
zu hissen,

das ungeschriebene, abgeschriebene,
verhökerte Wort.

Täuschung. 
Betrug. 
Plünderei.

Und heute ist wieder einer
dieser berühmten Tage, dieser denkwürdigen
Tage mit ihren schönen, korrumpierten Namen:
Heldentag, Freiheitstag, Tag der Behinderten.
Nationaler Mülltonnen-Aufstell-Tag.
Tag des Präsidialen Misthaufens.

Zufällig ist es der Nationale Frauentag.
Dabei ist alles, was ich will, allein sein.
Was für ein Fest!
Wofür sind Frauen da, zu Zeiten?
Die Unantastbarkeit davon. 
Natürlich denke ich an diese edlen Spenderinnen,
aber in Gottes Namen: ohne Worte.

Hab ich was von Schicksal gesagt,
in Bezug auf eine bestimmte Frau?
Dann muss es in Gedanken gewesen sein.

Ich ging raus auf die Straße, Luftschnappen.
Wind war aufgekommen,

und mit beschwingter Freigebigkeit
klebte er mir
ein nasses Blatt 
sanft an die Wange.
Verdammt sei so eine Politik,
nichts als Diplomatie.

Was kann ich sagen?

Ich kenne ein Haus
unten an der Straße, ganz mit Brettern verrammelt.
Das Geschirr und das Silber hat man 
in dicke Lagen Zeitungspapier gewickelt
und in Kartons versenkt.
Keiner hat das Fettgedruckte gelesen, keinen kümmerte es,
und doch hatte es eine Funktion.

Die Möbelpacker arbeiteten schnell,
während die Eigentümer dabei standen.
Dann mussten alle los, schnellschnell. 
Es ist ein Wettlauf mit der Zeit.

Aber eines Tages werden die Erben zurückkommen
zu dieser Hinterlassenschaft, eingeschlagen in verblichene Lügen,
und mit Tränen in den Augen 

das Porzellan auswickeln.


Om ons beeld te soen

Wat is hierdie lippoets,  
die mondlak 
wat ons aanplak 
om mekaar as burgers
te soengroet?

Dit skyn te veel.
Soos dolke.

Soos die vel 
van ’n slang wat afgedop het in die spieël.

Die tande van die gryns 
is ’n lang dun geraamte 
wat naderhand 
soos die grate van ’n paling deur ons blikke seil

singende van gevoel 
vir voormalige fame 

van seedieptes.
Dit weet die beste skans 
is ’n bietjie flikkerende glans.

En die driedimensionele 
silwer glinstering, 
die lyksak,
(ons geskiedkundige spieëlself) –

hierdie administratiewe peul,
girts oop

het oopgekraak –

o, Trojaanse perd – 

om ’n ry grinnikende sade 
soos die god 
van ’n primitiewe geloof
te ontbloot.

Ons aanmekaar gestikte saamheid, 
die saamgeperste soen, 
het losgetorring.

Dit is die versaakte papie
van ’n idee deur lug gebaar, 
wat ons nou ontgaan.

Geen polsslag aan die slagoffer nie.
Selfs gevaar bestaan nie meer nie.

En mens kan die spieël slegs gade slaan 
as jy so dood is soos die beeld daarin.


Kissing our image

What is this lip gloss,
this glaze –
which we apply 
to kiss one another 
as citizens?

It shines too much.
Like daggers.

Like the husk 
of a snake that came off in the mirror.

The teeth of this grin 
is a long, thin skeleton 
that sails through our gaze like the bones of an eel 

singing of feeling, 
of former depths. 

Sea depths.
It knows the best armour 
is a flash of glamour.

And the threedimensional 
silver sheen, 
the body bag,
(our mirror-self for so long) –

this administrative pod,
unzips

has cracked open –

o, Trojan horse – 

to reveal seeds grinning 
like the god 
of a primitive religion.

Our sewn up togetherness, 
the pursed kiss, 
has unravelled.

It is the discarded chrysalis
of an airborne idea 
that now escapes us.

No pulse to the casualty.
No danger even exists anymore.

And you can only behold it
if you’re as dead as the image.




Beim Küssen unseres Bildes

Was für ein Lipgloss ist das,
diese Glasur,
die wir auftragen,
um einander zu küssen,
als Bürger?

Es glänzt zu stark.
Wie Dolchblicke.

Wie die Haut
einer Schlange, entglitten in den Spiegel.

Die Zähne dieses Grinsens
sind ein langes, dünnes Skelett, Knochen
eines Aals, was durch unser Starren segelt,

singend vor Gefühl,
vor einstiger Tiefe.

Meerestiefe.
Es weiß, die beste Waffe
ist ein Aufblitzen von Glamour.

Und der dreidimensionale
Silberglanz,
der Sarg
(so lange unser Spiegelselbst),

dieses adiministrative Gehäuse,
geöffnet,

geknackt -

oh, Trojanisches Pferd -

offenbart grinsende Stecklinge
wie der Gott
einer primitiven Religion.

Der Keim unseres Zusammenseins,
der spitze Kuss,
ist enträtselt,

ist die abgeworfene Larve
einer luftgeborenen Idee,
die jetzt uns entgleitet.

Kein Puls beim Unglücksopfer.
Nicht mal mehr leiseste Gefahr.

Und wenn du so tot bist
wie das Bild, dann erst schaust du es.


                                                                           deutsch von Sylvia Geist

Anm. d. Ü: Der Dichter schreibt auf Afrikaans und Englisch, wobei er die  Möglichkeiten der jeweiligen Sprache einsetzt, was sich auch formal, u.a. durch den unterschiedlichen Umfang der Gedichte, ausdrückt. Die deutsche Übertragung versucht, beide Originaltexte zu würdigen, und stellt daher keine reine Übersetzung aus der einen oder der anderen Sprache dar.




MOHAMAD NASSEREDDINE


Readymade Roles

It occurs me to end the day
so I climb onto its stage and lower the curtain.
I realize that the day has returned

it passed in the day to come
so I draw upon the virginal page
a present that resembles the past.

I love that my times are already prepared
for me to wait for them upon a chair
and they come, blooming.

Why don’t the roles come prepared?
Why isn’t paradise ready?
Yet it is indeed ready.




Rollen, readymade

Mir ist danach, den Tag zu beenden,
also klettere ich auf seine Bühne und lasse den Vorhang herunter.
Ich stelle fest, dass der Tag wiedergekehrt ist,

er ging vorbei im Lauf des Tages, der kommen sollte,
also zeichne ich auf das unbeschriebene Blatt
eine Gegenwart, die dem Vergangenen ähnelt.

Ich liebe meine Zeiten, die schon vorbereitet sind
auf mich, der sie auf seinem Stuhl erwartet,
und sie kommen, in voller Blüte.

Warum kommen die Rollen nicht vorbereitet?
Warum ist das Paradies nicht bereit?
Doch, in der Tat, es ist bereit.
Exchanging Places

It’s 3 o’clock, just before dawn
you check Facebook with a half-closed eye
you find a “like” from a friend who died two year ago,
he asks you in a private message about his leather watch
and about life in its dial, and that monotonous sound:
tick tick tick,
and about his debts to the neighborhood grocer:
nail clippings, marlboro boxes, bad-tasting canned goods,
then he asks you about a card table
and did you marry a girl of spades,
a widow in a black chador carrying two roses
and about the red king with a white beard
when he avenges Hussein and Lorca.
In turn, you ask your friend who died two years ago
about your father when so much snow fell behind the mountains,
and about many things behind the closed door:
Does Karl Marx resemble God with his unkempt beard
and about the sex of angels in the distant heavens
and how killed children stare with the eyes of their killers.
After that, a long silence prevails over the small screen,
you exchange beds with your friend in the long sleep.
Die Plätze tauschen

Es ist 3 Uhr, kurz vor Sonnenaufgang,
du checkst Facebook mit halb geschlossenem Auge,
findest ein Like von einem Freund, der vor zwei Jahren starb
und dich in einer privaten Nachricht nach seiner Uhr mit dem 
                                                                                 Lederarmband fragt, ob ihr Zifferblatt noch lebt und dieser monotone Sound:
ticktack ticktack,
redet über seine Schulden beim Lebenshändler um die Ecke:
abgeschnittene Nägel, Marlboro-Packungen, schlecht                                                                                    schmeckendes Konservenfutter,  
dann fragt er dich nach einem Kartentisch
und ob du ein Pik-Mädchen geheiratet hast,
eine Witwe in schwarzem Tschador, die zwei Rosen trägt,
und nach dem roten König mit weißem Bart,
der Hussein und Lorca rächt.
Im Gegenzug fragst du deinen vor zwei Jahren verstorbenen
                                                                                                         Freund
wie es deinem Vater ging, als hinter den Bergen so viel Schnee fiel,
und nach vielen Dingen hinter der verschlossenen Tür:
Hat Karl Marx mit seinem zerzausten Bart Ähnlichkeit mit Gott,
was ist mit Engelsex in den fernen Himmeln,
und warum starren ermordete Kinder mit den Augen ihrer 
                                                                                                        Mörder.
Danach breitet sich ein langanhaltendes Schweigen über dem
                                                                             kleinen Bildschirm aus,
du tauschst im langen Schlaf mit deinem Freund das Bett.

                                                                                   deutsch von Sylvia Geist


 

 CHRISTINE KAPPE


"mit einem kleinen Bleistift weiterzuschreiben"

Ein vernünftiges Deckbett

Weil meine Mutter ihre Tabletten durcheinanderbringt, weil alle Tage gleich sind. Weil mein Vater der Dumme war. Und nun sie der Dumme ist. Irgendwer muss ja der Dumme sein. Ein Schüler, der wieder rückfällig geworden ist. Ein Schüler, der im Knast gelandet ist. Ein Schüler in Quarantäne. Ein Schüler in der Medizinischen Hochschule.
In unsere Schule scheint die Sonne. Walter hat ein Konzept geschrieben, das sich eine aus der Chefetage anguckt, beim Frühstück. Und dann kann sie nur bis eins, und muss rauchen. Unser Chef will uns duplizieren. Wir sitzen da mit und ohne Mundschutz, und richten ihm Skype ein. Er braucht ein vernünftiges Deckbett, doch wir wissen nicht, wo wir es hernehmen sollen. Wir wollen alle dauernd schlafen, oder sterben.



Geburtstagskarten und Zähne

Meine Mutter kann nur noch Geburtstagskarten schreiben. Mein Vater wiegt ohne Zähne die Hälfte. Er hat den Kostenvoranschlag für den Zahnersatz unterschrieben. Doch jemand hat seine Unterschrift eingeklammert und mit einem Fragezeichen versehen. Meine Mutter? Der Arzt? Der Busfahrer? Der dreimal so dick ist und ‘n Tatoo auf dem Arm hat. Eine bös‘ dreinblickende, halbnackte Blondine. Sitzt vorn in seinem Fahrerkäfig. Aus Plexiglas. Winkt allen zu an den Haltestellen. Keiner steigt ein, die trinken da bloß. Am Ende will sie nur noch ein Ziel anfahren. "Bahnhof?" "Bahnhof", einigen wir uns kollegial und geben Gas.


Nun ist es die Kunst

Ein ziemlich arroganter Vater kommt ziemlich spät, weil er immer neue Verkehrsverbindungen ausprobiert. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Vielzahl der Verbindungen und deren Gefährlichkeit? Jemand bewirft uns mit einer Schnapsflasche am Bismarckbahnhof, nebenan brennt ein Haus, trotz Bekanntgabe der neusten Fallzahlen. Nun ist es die Kunst, mit einem kleinen Bleistift weiterzuschreiben und nicht in Panik zu geraten.

SYLVIA GEIST


2 merzette

11

: konsensschrei
betretene spaßpedale
diskret verkabelte aale
vergossenes blei

antennengeweih
der elendskathedrale
das prima postmortale
drunter- und drüberraschungsei.

die windschattenspende
die lauschigen triümphe
die hände

in der wäschenymphe
im hättegelände
die spinnennetzstrümpfe






12

liebe krise!  der spinnennetzstrumpf überm gewicht
ihr neuestes sonst alles die vertraute masche
das große leiermaul die geile mitnehmtasche
schluckt die letzte kröte und scharniert sich nicht

weiter zwischen gutböse. die preise fürs tv-gericht
drücken steigende anorexiakurse also bitte rasche
gebote vörschläge zum ankauf des schicksals asche
damit möbeln wir den begnügungspark auf! sprich

dir den slogan vor /: ich kann das nicht / tempore mutantor


wir sind alle individuen sagt merz / ich nicht brüllt der chor



zuerst erschienen in: umverkehrte zertrümmerung. 15 merzette.
mit 16 collagen von arne rautenberg. kottnik booklet, hamburg 2015



CÈSAR OLHAGARAY: Die Epoche bringt eine Explosion zur Welt



 oder einfach gesagt: Die Kacke ist am Dampfen

ist der Titel einer Erzählung, die César Olhagaray zu seinem Ölgemälde Die Passion von Joel, nach St. César (2012) geschrieben hat.  Diese „Piktografische Erzählung“, wie er selbst sie nennt, hat er in einem Video in Szene gesetzt, das dem am 20. März 2020 verstorbenen Künstler und Kulturvermittler Joel Muñoz 
gewidmet ist.
zum Video

ERIC ONDREJICKA


Váha rovnováhy

Váha rovnováhy
v tichom tanci listov
v tele z popola

v oblúčikoch kruhu
cesty nanečisto
čo hneď nebola

Odkóduje jemnosť
aby bola čistá
skúpa na slovo

a z olova stvorí
ako alchymista
znova olovo




Weight of the Balance

Weight of the balance
in quiet dance of leaves
in a body of ash

in orbital curves
of a path in rough sketch
that’s vanished in a flash

Decodes delicacy
so it may be pure
with hardly a word said

and from lead creates
like an alchymist
ever newly lead
Krehkosť

Zasnežená jabloň
so zmrznutou lienkou
ukrytou pred chladom 
na noc do lupienkov

kyvadlový pohyb
ktorý neustane
vydýchnutím starca
do skrehnutej dlane

vtáčie hniezdo v ktorom
je odrazu pusto
zvuk budúcej básne
chvejúcej sa v prstoch

hra s mandalou polí
v ustavičnom zrení
a motýlí výkrik
tesne pri plameni

v zdanlivej slobode
čo z povahy núti
rozvetvovať kauzu
príčin rozhodnutí

empiricky merať
v dĺžkach a teplotách
krehkosť vyhradenú
pre zónu života

v darčeku možností
štatistických stavov
keď žiadna aj každá
sa zdá byť tou pravou

Fragility

The snow-decked apple tree
with a frozen beetle
that hid for the night
in the leaves from the cold

pendular motion
that never falters
the old man blowing
on his icy-stiff hand

bird’s nest where there is
sudden desolation
sound of a future poem
trembling in fingers

game with a mandala 
of ever-ripening fields
and a butterfly’s cry
too close to the flame

in a seeming freedom
that forces the cause
of reasons for decisions
to spread many-branched

empirically to measure
in lengths and temperatures
fragility reserved
for the zone of life

in the gift of potential
statistical states
when none and all seem
to be the right one

                                                                            englisch von John Minahane

MAYSALOUN HADI


Die Heuschrecke


Die Luft ist so klar, dass selbst Viren unbehelligt umherschwirren. Ruckzuck fange ich mir, wie alle anderen auch, eine Erkältung ein. Schließlich ist Frühling. Und im Frühling treibt es bekanntlich alle hnaus ins Freie, Menschen wie Viren.
Im Garten blüht keine einzige Blume, und das Schreckgespenst in meinem Kopf hat sich verflüchtigt. Also überlege ich, einen Abstecher in die Gärtnerei zu machen, auf dem Weg zum Markt. Ich brauche Weißkohl und Orangen, und vielleicht hole ich auch gleich ein paar Falafel-Sandwiches. Ein ausgezeichneter Plan für diesen sonnig-warmen Tag.
Um Punkt neun Uhr verlasse ich das Haus. Ich will gerade das Auto aufschließen, mit dem ich, nebenbei bemerkt, schon ewig nicht mehr gefahren bin, da sehe ich auf dem Griff der hinteren Tür eine Heuschrecke sitzen. Aber ich lasse mir die Laune nicht verderben. Immerhin ist der Strom wieder da.
„So, Tür auf, ich will einsteigen“, rufe ich energisch, um die Heuschecke zu vertreiben. Von wegen. Sie lässt sich nicht beirren.
„Summ, summ, summ, Bienchen summ herum!“, singe ich. Als ich den Wagen starte, merke ich, dass der Rückwärtsgang eingelegt ist, dabei will ich gar nicht rückwärts fahren. „Summ, summ, summ.“ Ich bewege mich nicht
von der Stelle. „Summ, summ, summ.“ Nein, nicht rückwärts. Am Ende gebe ich mich geschlagen. Ein kleiner Transporter, voll mit alten Möbeln, muss meinetwegen anhalten. „Kleiderschrank, Sofa, Heizofen!“, preist der Mann auf der Ladefläche unüberhörbar seine Ware an.
Ein Fußgänger kommt hinzu und mischt sich ungefragt in mein Fahrmanöver ein. „Zurücksezen. Gut. Ja, gut so.“ Mir fällt auf, dass er einen schiefen Mund hat, und taub ist er offenbar auch. Ich hebe die Hand zum Abschied, doch er erwidert die Geste nicht, denn sein Gehstock hat sich zwischen zwei Pflastersteinen verhakt.
Unterwegs schießt mir durch den Kopf, dass die Handwerker heute kommen wollten. Naja, der Typ, der den Abfluss reparieren soll, erscheint sowieso nicht pünktlich, so unzuverlässig wie er ist. Aber der nette Klempner steht garantiert schon vor der Tür, immerhin kriegt er noch Geld. Ich greife zum Handy und sage beiden Bescheid, dass ich erst in einer halben Stunde wiederkomme.
Die halbe Stunde verstreicht, und auch eine weitere halbe Stunde, am Checkpoint. Schon fast Mittag, nicht zu fassen. Ich esse ein paar geröstete Sonnenblumenkerne und trinke Wasser aus der Flasche. Dann sehe ich plötzlich Nelken. Seit zwei Monaten versuche ich, Nelken zu bekommen. Endlich gibt es welche, großartig! Sofort trete ich auf die Bremse, springe ins Geschäft und lasse mir ein paar Setzlinge zurücklegen. Ich hole sie auf dem Rückweg ab, verspreche ich dem Gärtner. Als ich gerade weiterfahren will, steht da doch tatsächlich ein Pfau. Ich kann nicht anders und steige wieder aus. Bei der Gelegenheit bestelle ich gleich noch Narzissen.
„Summ, summ, summ.“
„Zurücksetzen, zurück! Noch ein Stück!“ Wieder so ein Typ, der mich vor aller Augen blamiert.
„Summ, summ, summ ...“
„Stopp! Lenkrad einschlagen. Stopp. Ein Stück zurück. Gut so.“
Er hat keine Ohren, keine Haare, und ihm fehlt ein Fuß. Wahrscheinlich war er einmal Taxifahrergehilfe, bevor eine Autobombe ihn so zugerichtet hat.
Hier geradeaus geht es zur Bäckerei mit dem leckeren Weißbrot, überlege ich und kurbele die Fensterscheibe hoch,um mich vor dem Staub draußen zu retten. Eine Trillerpfeife ertönt. Angenehm, fast melodisch klingt sie. Kurz vor der Kreuzung sehe ich sie dann auch - am Hals eines Polizisten baumeln. Am Gürtel trägt der Ordnungshüter eine Pistole.
Ein paar Meter weiter, auf einer Baustelle, ist ein Arbeiter zugange: Real Madrid hätte das Spiel vier Minuten vor Abpfiff gewinnen können! Aber der Ball prallte am Torpfosten ab. Das Team ist einfach nicht in Form. Mit so einer Schlappe hätte keiner gerechnet, also wirklich …
Schwer donnert die riesige Walze über die Straße, schiebt überschüssigen Teer rechts und links zu Haufen auf und hinterlässt eine Fahrbahn so glatt wie ein ausgerollter Hefeteig. Der Walze sei Dank! Ohne sie wäre ich die alte Strecke gefahren und hätte nie entdeckt, dass die Galerie, die nach dem Krieg viele Jahre geschlossen war, wieder geöffnet ist und so einiges im Sortiment hat. Bilder von Pferden, Talismane, Hufeisen und eigerahmte Koranverse. Unweit davon ein Möbelhandel unter freiem Himmel. Aber nur freitags. An allen anderen Tagen keine Spur von dem Geschäft. Schade, dass ich in Eile bin, sonst würde ich aussteigen und ein bisschen stöbern.
Moment, hier waren doch irgendwo die Läden, in denen man Honig und Kringelgebäck bekommt. Und die Ramschbuden und Billigwarenparadiese, wo sind die geblieben? Wahrscheinlich bin ich denen schon vorbeigefahren. Aber wer sagt´s denn, Abd Abu al-Barek. Sitzt da in seinem Rollstuhl und macht mir Zeichen: Ich soll zurücksetzen.
Die monströse Heuschrecke hockt immer noch auf dem Türgriff. Bizarr, gruselig. Im Rückspiegel sieht sie aus wie das erste Flugzeug voller US-Marines, das auf einem Flugzeugträger im Persischen Golf gelandet ist. So eine Maschine transportierte auch Bush immer vom Weißen Haus zum Sitz
der Vereinten Nationen, in knapp einer Stunde. Und schon habe ich die Heuschrecke wieder aus meinem Sinn gestrichen.
Ich fahre an der berühmten Rabaat-Bäckerei vorbei. Zwischen Ramsch- und Milchladen steht seit neuestem ein Checkpoint. Ich halte an. Es geht doch nichts über Plastikblumen auf einem Betonquader. Daneben ein rauchender Soldat. Hinter ihm prangt „Die Armee, Verteidiger von Heim und Vaterland!“ Wie beruhigend, da kann man sich entspannt zurücklehnen. Vor allem, weil sich die Szene in einem fort wiederholt, zigmal in der Minute, tagein, tagaus an sämtlichen Tagen im Jahr sucht der Soldat mit dem Detektor nach Sprengstoff. Gleich neben ihm ein Verstümmelter. Der Soldat genießt sichtlich die Macht, die ihn befugt, jeden Passanten zu kontrollieren. Beim Blick in den Ausweis lacht er und verzieht merkwürdig den Mund, dass man den Eindruck gewinnt, er könne nicht lesen. Der Verstümmelte tritt an meinen Wagen. Hastig schließe ich das Fenster. Ich will es nicht wissen, will nicht wissen, warum er bettelt. Aber er lässt sich nicht abweisen. Durch die
Scheibe zeigt er mir seinen Arm, oder besser gesagt den am Ellbogen endenden Stumpf. Dann wendet er sich dem nächsten Auto zu. Heraus schaut ein Kind mit Downsyndrom, glückselig, als schwebe es im siebten Himmel. Währenddessen singt Nazem al-Ghazali: „Ich liebe dich, liebe jeden, der dich liebt … Ich liebe die Rose, so rot wie deine Wangen.“
Elf Uhr, fast Mittag. Die Luft heizt sich auf, es wird immer wärmer, brütend heiß wie die
Hölle. Eigentlich wollte ich noch Obst und Gemüse einkaufen. Aber ich halte nicht an, verzichte freiwillig auf alles. Weißkohl, Orangen und die Bananen, auf die ich heute Morgen so einen Heißhunger hatte. Auch die Pflanzen schlage ich mir aus dem Kopf. Elende Hitze, die raubt mir noch den letzten Nerv. Herrgott, ist die Bremsschwelle hoch! Dagegen waren die letzten zehn ein Kinderspiel. „Die Rebellen in Brega kämpfen unerbittlich und haben Misrata zurückerobert“, sagt der Nachrichtensprecher. Also haben die Rebellen Misrata wieder im Griff. Außerdem haben sie einen Hubschrauber abgeschossen und die Flugabwehrraketen erbeutet … Deraa rebelliert … Aden … brodelt? Ja, brodelt.
Die Monsterheuschrecke ist immer noch da, unglaublich. Wenigstens bin ich nun endlich am Falafel-Imbiss. Der Besitzer, Said heißt er, ist wirklich ein kleines Dreckschwein. Er muss niesen. Und was macht er? Wischt sich die Nase am Ärmel. Naja, was sollte er sonst tun, schließlich hält er in der Hand ja Geld und keine Taschentücher.
„Wie wär´s mit Gummihandschuhen, Said?“
„Der Junge holt sofort welche aus der Apotheke, versprochen! Amba oder Soße?“
„Bitte nur Amba.“
„Pepsi oder Saft?“
„Pepsi und Saft.“
„Gibt´s beides schon lange nicht mehr.“
Summ, summ, summ, Bienchen summ herum.
Ein dicker Junge hockt auf dem Bürgersteig und drängt mir seine Hilfe auf: „Noch etwas zurück, ja, und jetzt näher ran an die verpisste Mini-Mall.“

Als ich zu Hause ankomme, wartet der nette Klempner bereits vor der Tür im Schatten. Heute mal nicht in Militäruniform. Die hat er wohl in den Müll befördert.
Klopf klopf. „Macht auf, Kinder, Mama ist wieder da.“ Klopf klopf. „Nun los, macht die Tür auf!“
„Nein!“
„Ich bin´s, Mama!“
„Bist du nicht.“
„Verdammt noch mal, nun macht schon auf! Ich bin nicht der böse Wolf.“

„Beweisen! Streck den Fuß unter der Tür durch.“
„Schluss jetzt! Kommt raus und helft mir.“
Die Tür öffnet sich.
„Holt die Sachen ins Haus, bevor der Klempner anfängt. Wartet er eigentlich schon lange?“
„Der steht da schon eine Stunde mit der Zange rum.“
Ich gehe noch einmal hinaus, um das Auto abzuschließen, und traue meinen Augen nicht. Die Heuschrecke! Sie sitzt immer noch da. Ein echer Alptraum. Widerliches Viech, könnte man auch sagen. Brutstätte abertausender Eier – eine weitere Umschreibung. Gigant mit grünem Panzer – noch eine Umschreibung. Zähe Bestie, überquert das Rote Meer ohne Zwischenstopp – auch eine Umschreibung. Macht einen Höllenlärm mit den Beinen und Flügeln, die immerzu am Körper schubbern. Die reinste Fressmaschine. Ihr Leben eine nahtlose Aneinanderreihung zerstörerischer Gelage. Sie hat im Maul nicht etwa Zunge und Zähne, sondern Finger, entsetzlich. Der Frühling ist herrlich, keine Frage. Aber das weiß sie besser als jeder andere. Ein
Schwarm ihrer Spezies  vertilgt auf einen Schlag so viel wie die gesamte Bevölkerung Bagdads in einem Monat. Großer Gott! Und wenn dieses Ungeheuer geschlechtsreif wird … Der Panzer färbt sich gelb. Und nach der Paarung frisst das Weibchen dem Männchen den Kopf weg. Einmal kräftig mit den Hinterbeinen abgestoßen, startet sie eine Attacke in riesigen Schwärmen, die aussehen wie dunkle Wolken. Widerwärtig. Und im Zeichentrickfilm wird sie einem zu allem Übel als Dirigent präsentiert!
Im Biologiebuch stehen unter ihrer Abbildung noch viel mehr empörende Fakten. Gnadenlos richtet sie alles zugrunde, wobei die Jungen mindestens so gefährlich sind wie die Ausgewachsenen.  Auf der Arabischen Halbinsel gilt sie als Delikatesse und wird mit Vorliebe Ehrengästen serviert. Die Heuschrecke frisst wahllos jede Pflanze. Sie vertilgt das Dreifache ihres Körpergewichts an Blättern. Platsch: Ein Blatt in den Gully. Platsch: Eines in den Kanal. Weg damit!
Inzwischen hat der Klempner den Wasserhahn im Bad repariert. Ich gebe
ihm seinen Lohn, er steht  noch eine Weile im Schatten herum, dann geht er.
„Summ, summ, summ …“ Die Rebellen haben Rakten aus dem zerstörten Hubschrauber erbeutet und Misrata eingenommen. Die Nato bombardiert das Gebiet um Tripolis, Misrata fällt den Gaddafi-Milizen wieder in die Hände. Und die Monsterheuschrecke sitzt unverändert auf der Autotür.
Den ganzen Tag hockt sie dort. Am Abend ist sie verschwunden. Wo ist sie nur? In ihre Einzelteile zerlegt. Ameisen, eine ganze Kolonne davon, schaffen Gliedmaße um Gliedmaße in einen Sandhügel, der Krater hat wie ein Vulkan. Das ist die letzte Möglichkeit, dieses Viech zu beschreiben am perfekten Ende eines frühlingshaften Tages.

                                                                                                          deutsch von Jessica Siepelmeyer
zuerst erschienen in:
Birgit Svensson (Hg.): Mit den Augen von Inana. Verlag Hans Schiler, Berlin/Tübingen 2015
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