Geschichten

Neuer Titel



CHRISTINE KAPPE & CORINNA EIKMEIER

Gemeinsam mit der Musikerin Corinna Eikmeier erarbeitet Christine Kappe seit Jahren Text-Musik-Korrespondenzen und Klangcollagen. Hier präsentieren die Künstlerinnen ein neues Zusammenspiel unter dem Titel  Verbindungen:
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SYLVIA GEIST:
Schmerzfrei und ruhig
Erzählung

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MAYSALOUN HADI


Die Heuschrecke


Die Luft ist so klar, dass selbst Viren unbehelligt umherschwirren. Ruckzuck fange ich mir, wie alle anderen auch, eine Erkältung ein. Schließlich ist Frühling. Und im Frühling treibt es bekanntlich alle hnaus ins Freie, Menschen wie Viren.
Im Garten blüht keine einzige Blume, und das Schreckgespenst in meinem Kopf hat sich verflüchtigt. Also überlege ich, einen Abstecher in die Gärtnerei zu machen, auf dem Weg zum Markt. Ich brauche Weißkohl und Orangen, und vielleicht hole ich auch gleich ein paar Falafel-Sandwiches. Ein ausgezeichneter Plan für diesen sonnig-warmen Tag.
Um Punkt neun Uhr verlasse ich das Haus. Ich will gerade das Auto aufschließen, mit dem ich, nebenbei bemerkt, schon ewig nicht mehr gefahren bin, da sehe ich auf dem Griff der hinteren Tür eine Heuschrecke sitzen. Aber ich lasse mir die Laune nicht verderben. Immerhin ist der Strom wieder da.
„So, Tür auf, ich will einsteigen“, rufe ich energisch, um die Heuschecke zu vertreiben. Von wegen. Sie lässt sich nicht beirren.
„Summ, summ, summ, Bienchen summ herum!“, singe ich. Als ich den Wagen starte, merke ich, dass der Rückwärtsgang eingelegt ist, dabei will ich gar nicht rückwärts fahren. „Summ, summ, summ.“ Ich bewege mich nicht
von der Stelle. „Summ, summ, summ.“ Nein, nicht rückwärts. Am Ende gebe ich mich geschlagen. Ein kleiner Transporter, voll mit alten Möbeln, muss meinetwegen anhalten. „Kleiderschrank, Sofa, Heizofen!“, preist der Mann auf der Ladefläche unüberhörbar seine Ware an.
Ein Fußgänger kommt hinzu und mischt sich ungefragt in mein Fahrmanöver ein. „Zurücksezen. Gut. Ja, gut so.“ Mir fällt auf, dass er einen schiefen Mund hat, und taub ist er offenbar auch. Ich hebe die Hand zum Abschied, doch er erwidert die Geste nicht, denn sein Gehstock hat sich zwischen zwei Pflastersteinen verhakt.
Unterwegs schießt mir durch den Kopf, dass die Handwerker heute kommen wollten. Naja, der Typ, der den Abfluss reparieren soll, erscheint sowieso nicht pünktlich, so unzuverlässig wie er ist. Aber der nette Klempner steht garantiert schon vor der Tür, immerhin kriegt er noch Geld. Ich greife zum Handy und sage beiden Bescheid, dass ich erst in einer halben Stunde wiederkomme.
Die halbe Stunde verstreicht, und auch eine weitere halbe Stunde, am Checkpoint. Schon fast Mittag, nicht zu fassen. Ich esse ein paar geröstete Sonnenblumenkerne und trinke Wasser aus der Flasche. Dann sehe ich plötzlich Nelken. Seit zwei Monaten versuche ich, Nelken zu bekommen. Endlich gibt es welche, großartig! Sofort trete ich auf die Bremse, springe ins Geschäft und lasse mir ein paar Setzlinge zurücklegen. Ich hole sie auf dem Rückweg ab, verspreche ich dem Gärtner. Als ich gerade weiterfahren will, steht da doch tatsächlich ein Pfau. Ich kann nicht anders und steige wieder aus. Bei der Gelegenheit bestelle ich gleich noch Narzissen.
„Summ, summ, summ.“
„Zurücksetzen, zurück! Noch ein Stück!“ Wieder so ein Typ, der mich vor aller Augen blamiert.
„Summ, summ, summ ...“
„Stopp! Lenkrad einschlagen. Stopp. Ein Stück zurück. Gut so.“
Er hat keine Ohren, keine Haare, und ihm fehlt ein Fuß. Wahrscheinlich war er einmal Taxifahrergehilfe, bevor eine Autobombe ihn so zugerichtet hat.
Hier geradeaus geht es zur Bäckerei mit dem leckeren Weißbrot, überlege ich und kurbele die Fensterscheibe hoch,um mich vor dem Staub draußen zu retten. Eine Trillerpfeife ertönt. Angenehm, fast melodisch klingt sie. Kurz vor der Kreuzung sehe ich sie dann auch - am Hals eines Polizisten baumeln. Am Gürtel trägt der Ordnungshüter eine Pistole.
Ein paar Meter weiter, auf einer Baustelle, ist ein Arbeiter zugange: Real Madrid hätte das Spiel vier Minuten vor Abpfiff gewinnen können! Aber der Ball prallte am Torpfosten ab. Das Team ist einfach nicht in Form. Mit so einer Schlappe hätte keiner gerechnet, also wirklich …
Schwer donnert die riesige Walze über die Straße, schiebt überschüssigen Teer rechts und links zu Haufen auf und hinterlässt eine Fahrbahn so glatt wie ein ausgerollter Hefeteig. Der Walze sei Dank! Ohne sie wäre ich die alte Strecke gefahren und hätte nie entdeckt, dass die Galerie, die nach dem Krieg viele Jahre geschlossen war, wieder geöffnet ist und so einiges im Sortiment hat. Bilder von Pferden, Talismane, Hufeisen und eigerahmte Koranverse. Unweit davon ein Möbelhandel unter freiem Himmel. Aber nur freitags. An allen anderen Tagen keine Spur von dem Geschäft. Schade, dass ich in Eile bin, sonst würde ich aussteigen und ein bisschen stöbern.
Moment, hier waren doch irgendwo die Läden, in denen man Honig und Kringelgebäck bekommt. Und die Ramschbuden und Billigwarenparadiese, wo sind die geblieben? Wahrscheinlich bin ich denen schon vorbeigefahren. Aber wer sagt´s denn, Abd Abu al-Barek. Sitzt da in seinem Rollstuhl und macht mir Zeichen: Ich soll zurücksetzen.
Die monströse Heuschrecke hockt immer noch auf dem Türgriff. Bizarr, gruselig. Im Rückspiegel sieht sie aus wie das erste Flugzeug voller US-Marines, das auf einem Flugzeugträger im Persischen Golf gelandet ist. So eine Maschine transportierte auch Bush immer vom Weißen Haus zum Sitz
der Vereinten Nationen, in knapp einer Stunde. Und schon habe ich die Heuschrecke wieder aus meinem Sinn gestrichen.
Ich fahre an der berühmten Rabaat-Bäckerei vorbei. Zwischen Ramsch- und Milchladen steht seit neuestem ein Checkpoint. Ich halte an. Es geht doch nichts über Plastikblumen auf einem Betonquader. Daneben ein rauchender Soldat. Hinter ihm prangt „Die Armee, Verteidiger von Heim und Vaterland!“ Wie beruhigend, da kann man sich entspannt zurücklehnen. Vor allem, weil sich die Szene in einem fort wiederholt, zigmal in der Minute, tagein, tagaus an sämtlichen Tagen im Jahr sucht der Soldat mit dem Detektor nach Sprengstoff. Gleich neben ihm ein Verstümmelter. Der Soldat genießt sichtlich die Macht, die ihn befugt, jeden Passanten zu kontrollieren. Beim Blick in den Ausweis lacht er und verzieht merkwürdig den Mund, dass man den Eindruck gewinnt, er könne nicht lesen. Der Verstümmelte tritt an meinen Wagen. Hastig schließe ich das Fenster. Ich will es nicht wissen, will nicht wissen, warum er bettelt. Aber er lässt sich nicht abweisen. Durch die
Scheibe zeigt er mir seinen Arm, oder besser gesagt den am Ellbogen endenden Stumpf. Dann wendet er sich dem nächsten Auto zu. Heraus schaut ein Kind mit Downsyndrom, glückselig, als schwebe es im siebten Himmel. Währenddessen singt Nazem al-Ghazali: „Ich liebe dich, liebe jeden, der dich liebt … Ich liebe die Rose, so rot wie deine Wangen.“
Elf Uhr, fast Mittag. Die Luft heizt sich auf, es wird immer wärmer, brütend heiß wie die
Hölle. Eigentlich wollte ich noch Obst und Gemüse einkaufen. Aber ich halte nicht an, verzichte freiwillig auf alles. Weißkohl, Orangen und die Bananen, auf die ich heute Morgen so einen Heißhunger hatte. Auch die Pflanzen schlage ich mir aus dem Kopf. Elende Hitze, die raubt mir noch den letzten Nerv. Herrgott, ist die Bremsschwelle hoch! Dagegen waren die letzten zehn ein Kinderspiel. „Die Rebellen in Brega kämpfen unerbittlich und haben Misrata zurückerobert“, sagt der Nachrichtensprecher. Also haben die Rebellen Misrata wieder im Griff. Außerdem haben sie einen Hubschrauber abgeschossen und die Flugabwehrraketen erbeutet … Deraa rebelliert … Aden … brodelt? Ja, brodelt.
Die Monsterheuschrecke ist immer noch da, unglaublich. Wenigstens bin ich nun endlich am Falafel-Imbiss. Der Besitzer, Said heißt er, ist wirklich ein kleines Dreckschwein. Er muss niesen. Und was macht er? Wischt sich die Nase am Ärmel. Naja, was sollte er sonst tun, schließlich hält er in der Hand ja Geld und keine Taschentücher.
„Wie wär´s mit Gummihandschuhen, Said?“
„Der Junge holt sofort welche aus der Apotheke, versprochen! Amba oder Soße?“
„Bitte nur Amba.“
„Pepsi oder Saft?“
„Pepsi und Saft.“
„Gibt´s beides schon lange nicht mehr.“
Summ, summ, summ, Bienchen summ herum.
Ein dicker Junge hockt auf dem Bürgersteig und drängt mir seine Hilfe auf: „Noch etwas zurück, ja, und jetzt näher ran an die verpisste Mini-Mall.“

Als ich zu Hause ankomme, wartet der nette Klempner bereits vor der Tür im Schatten. Heute mal nicht in Militäruniform. Die hat er wohl in den Müll befördert.
Klopf klopf. „Macht auf, Kinder, Mama ist wieder da.“ Klopf klopf. „Nun los, macht die Tür auf!“
„Nein!“
„Ich bin´s, Mama!“
„Bist du nicht.“
„Verdammt noch mal, nun macht schon auf! Ich bin nicht der böse Wolf.“

„Beweisen! Streck den Fuß unter der Tür durch.“
„Schluss jetzt! Kommt raus und helft mir.“
Die Tür öffnet sich.
„Holt die Sachen ins Haus, bevor der Klempner anfängt. Wartet er eigentlich schon lange?“
„Der steht da schon eine Stunde mit der Zange rum.“
Ich gehe noch einmal hinaus, um das Auto abzuschließen, und traue meinen Augen nicht. Die Heuschrecke! Sie sitzt immer noch da. Ein echer Alptraum. Widerliches Viech, könnte man auch sagen. Brutstätte abertausender Eier – eine weitere Umschreibung. Gigant mit grünem Panzer – noch eine Umschreibung. Zähe Bestie, überquert das Rote Meer ohne Zwischenstopp – auch eine Umschreibung. Macht einen Höllenlärm mit den Beinen und Flügeln, die immerzu am Körper schubbern. Die reinste Fressmaschine. Ihr Leben eine nahtlose Aneinanderreihung zerstörerischer Gelage. Sie hat im Maul nicht etwa Zunge und Zähne, sondern Finger, entsetzlich. Der Frühling ist herrlich, keine Frage. Aber das weiß sie besser als jeder andere. Ein
Schwarm ihrer Spezies  vertilgt auf einen Schlag so viel wie die gesamte Bevölkerung Bagdads in einem Monat. Großer Gott! Und wenn dieses Ungeheuer geschlechtsreif wird … Der Panzer färbt sich gelb. Und nach der Paarung frisst das Weibchen dem Männchen den Kopf weg. Einmal kräftig mit den Hinterbeinen abgestoßen, startet sie eine Attacke in riesigen Schwärmen, die aussehen wie dunkle Wolken. Widerwärtig. Und im Zeichentrickfilm wird sie einem zu allem Übel als Dirigent präsentiert!
Im Biologiebuch stehen unter ihrer Abbildung noch viel mehr empörende Fakten. Gnadenlos richtet sie alles zugrunde, wobei die Jungen mindestens so gefährlich sind wie die Ausgewachsenen.  Auf der Arabischen Halbinsel gilt sie als Delikatesse und wird mit Vorliebe Ehrengästen serviert. Die Heuschrecke frisst wahllos jede Pflanze. Sie vertilgt das Dreifache ihres Körpergewichts an Blättern. Platsch: Ein Blatt in den Gully. Platsch: Eines in den Kanal. Weg damit!
Inzwischen hat der Klempner den Wasserhahn im Bad repariert. Ich gebe
ihm seinen Lohn, er steht  noch eine Weile im Schatten herum, dann geht er.
„Summ, summ, summ …“ Die Rebellen haben Rakten aus dem zerstörten Hubschrauber erbeutet und Misrata eingenommen. Die Nato bombardiert das Gebiet um Tripolis, Misrata fällt den Gaddafi-Milizen wieder in die Hände. Und die Monsterheuschrecke sitzt unverändert auf der Autotür.
Den ganzen Tag hockt sie dort. Am Abend ist sie verschwunden. Wo ist sie nur? In ihre Einzelteile zerlegt. Ameisen, eine ganze Kolonne davon, schaffen Gliedmaße um Gliedmaße in einen Sandhügel, der Krater hat wie ein Vulkan. Das ist die letzte Möglichkeit, dieses Viech zu beschreiben am perfekten Ende eines frühlingshaften Tages.

                                                                                                          deutsch von Jessica Siepelmeyer
zuerst erschienen in:
Birgit Svensson (Hg.): Mit den Augen von Inana. Verlag Hans Schiler, Berlin/Tübingen 2015


 

 CHRISTINE KAPPE


"mit einem kleinen Bleistift weiterzuschreiben"

Geburtstagskarten und Zähne

Meine Mutter kann nur noch Geburtstagskarten schreiben. Mein Vater wiegt ohne Zähne die Hälfte. Er hat den Kostenvoranschlag für den Zahnersatz unterschrieben. Doch jemand hat seine Unterschrift eingeklammert und mit einem Fragezeichen versehen. Meine Mutter? Der Arzt? Der Busfahrer? Der dreimal so dick ist und ‘n Tatoo auf dem Arm hat. Eine bös‘ dreinblickende, halbnackte Blondine. Sitzt vorn in seinem Fahrerkäfig. Aus Plexiglas. Winkt allen zu an den Haltestellen. Keiner steigt ein, die trinken da bloß. Am Ende will sie nur noch ein Ziel anfahren. "Bahnhof?" "Bahnhof", einigen wir uns kollegial und geben Gas.


Ein vernünftiges Deckbett

Weil meine Mutter ihre Tabletten durcheinanderbringt, weil alle Tage gleich sind. Weil mein Vater der Dumme war. Und nun sie der Dumme ist. Irgendwer muss ja der Dumme sein. Ein Schüler, der wieder rückfällig geworden ist. Ein Schüler, der im Knast gelandet ist. Ein Schüler in Quarantäne. Ein Schüler in der Medizinischen Hochschule.
In unsere Schule scheint die Sonne. Walter hat ein Konzept geschrieben, das sich eine aus der Chefetage anguckt, beim Frühstück. Und dann kann sie nur bis eins, und muss rauchen. Unser Chef will uns duplizieren. Wir sitzen da mit und ohne Mundschutz, und richten ihm Skype ein. Er braucht ein vernünftiges Deckbett, doch wir wissen nicht, wo wir es hernehmen sollen. Wir wollen alle dauernd schlafen, oder sterben.



Nun ist es die Kunst

Ein ziemlich arroganter Vater kommt ziemlich spät, weil er immer neue Verkehrsverbindungen ausprobiert. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Vielzahl der Verbindungen und deren Gefährlichkeit? Jemand bewirft uns mit einer Schnapsflasche am Bismarckbahnhof, nebenan brennt ein Haus, trotz Bekanntgabe der neusten Fallzahlen. Nun ist es die Kunst, mit einem kleinen Bleistift weiterzuschreiben und nicht in Panik zu geraten.



Maskenball

OLIVER STAHMANN


Die Holunderblütenmaske


Sie hieß Reina und trug die schönste Maske im Ort. Weiße Holunderblüten auf rötlichem Grund. Ich hatte sie schon oft von weitem gesehen und mir in schlaflosen Nächten vorgestellt, wie wohl ihr Mund, ihr Kinn und ihre Nase aussehen mochten. Der Gedanke an all die möglichen Formen erregte mich sehr.
Doch erst bei der Beerdigung eines gemeinsamen Freundes, der an einem unglücklich zusammengestellten Cocktail aus Chlorreiniger, Essig und Zitronensäure verstorben war, lernten wir uns richtig kennen.
Wir kamen schnell ins Gespräch über Infektionsraten auf Aruba und in Bahrain. Ihr Haar roch nach Zimt, Süßholz und Hydroxychloroquin. Schon bald berührten sich zärtlich unsere Ellbogen. Ich wusste sofort, dass ich unsere Antikörper vereinigen wollte.
Wir gingen noch ein paar Mal im Park spazieren. Einmal erlaubte sie mir einen Kuss auf ihre stoffbedeckte Wange, näher kam ich ihr nie wieder.
Ja, sie wolle eine Beziehung mit mir, offenbarte sie mir eines Tages, und dann werde sie auch die Holunderblütenmaske für mich lüften. Für diesen schwierigen nächsten Schritt jedoch brauche sie vollkommenes Vertrauen – und Urin-, Speichel-, Blut- und DNA-Proben. Ich schickte ihr alles per Einschreiben.  
Nun fehlte nur noch die Zustimmung ihrer Familie.

Kurze Zeit später lud sie mich zu sich nach Hause ein. Ihre Eltern, so erfuhr ich nach einer Google-Recherche, waren vor kurzem viral gegangen, nachdem sie mit Harken und Rechen bewaffnet eine Horde wilder Maskenverweigerer von ihrem Grundstück vertrieben hatten.
Ich trug an diesem Abend eine bunte Waq’ollo, die Maske der peruanischen Qhapaq Q'olla-Tänzer. Darunter war ich durch eine weitere N95 geschützt. Reinas Eltern waren beide in feine indigofarbene Tagelmusts gehüllt, wie sie bei den algerischen Tuareg üblich waren. Zu einer anderen Zeit hätte man uns für Teilnehmer einer Karnevalsveranstaltung oder einer Halloween-Party halten können – oder die Männer mit den Zwangsjacken benachrichtigt, schließlich war es Mitte Juni.
Gleich an der Tür desinfizierte ich mich gründlichst und zog mir meine langen, knallroten Gummihandschuhe bis zu den Ellbogen. Und was soll ich sagen, anfangs sah es so aus, als würde dieser erste Abend ein voller Erfolg.
Wir brachen das Eis erst einmal mit belanglosem epidemiologischen Smalltalk, bevor wir uns ins Speisezimmer begaben.
Das Abendessen wurde an einem großen achteckigen Tisch eingenommen, so dass wir vier ausreichend Platz hatten. Obwohl Reina mir gegenübersaß, war sie bestimmt über 7 Meter von mir entfernt, nur zu gern hätte ich sie 5.50m näher gehabt.
Die Vorspeise war eine trübe Brühe, die in kleinen, mundfreundlichen Kapseln serviert wurde. Dazu gab es einen Heidelbeerwein, ebenfalls in Kapseln, die man bequem unter der Maske hindurch zum Mund führen konnte. Reinas Eltern erzählten mir, die Kapseln seien aus Gelatine und lösten sich im Gaumen auf, ganz wie Tabletten, man müsse daher auch nicht kauen und reduziere so auch die Gefahr, dass die Maske beim Essen verrutsche. Außerdem brauche man kein Besteck mehr, hob Reinas Vater hervor. Es sei viel zu gefährlich, in diesen Zeiten Besteck zu benutzen, man müsste es theoretisch alle paar Minuten desinfizieren.
Früher seien sie überzeugte Veganer gewesen, berichteten die Eltern. Bis sie die Folgeschäden veganen Essens analysierten. Hitler, sagte der Vater, war Vegetarier. Was konnte man dann erst von einem veganen Koch erwarten? Aber Fleischverzehr sei auch keine Lösung und viel zu riskant. Er erzählte von Tierkonzentrationslagern und Fleischfabriken, die zu Superspreadern geworden waren und hermetisch abgeriegelt gehörten, wie einst Tschernobyl.
Essen, so sagte Reinas Mutter, sei heutzutage eine echte Herausforderung. Was habe das hochgelobte Mittelmeeressen den armen Menschen in Spanien oder in Italien geholfen? Und die Amerikaner mit ihren Burgern und Steaks stünden bald vor der kompletten Ausrottung. Weder Curry noch Feijoada, weder Ceviche noch Mole könne man guten Gewissens zu sich nehmen, und alles, was „Made in China“ war, käme ihnen sowieso nicht ins Haus.  Man habe sich deshalb entschlossen, nur noch neuseeländisches Essen zuzubereiten, daher handelte es sich bei der folgenden Hauptspeise auch um ein rotoruanisches Maori-Hāngi, das wie die Suppe in kleinen Kapseln gereicht wurde.
Nach der gewöhnungsbedürftigen Mahlzeit – ich verputzte drei Kapseln und kam mir dabei gefräßig vor, denn Reina und ihre Eltern nahmen selbst nur jeweils eine - setzten wir uns ins große, quadratische Wohnzimmer, in dem es vier kleine Sitzecken gab. Ich saß jetzt nur noch 5 Meter von Reina entfernt. Mein Herz schlug schneller. Ich war drauf und dran, die Eltern um die Erlaubnis bitten, ihre Tochter einmal ohne Maske sehen zu dürfen, doch dafür war es sicher noch zu früh. Ich durfte nichts übereilen, wenn ich ihr Vertrauen gewinnen wollte.
 
Diesem Ziel schien ich rascher als gehofft näherzukommen. Bei meinem nächsten Besuch zeigte Reinas Vater mir sein privates Labor, in dem er Ivermectin selbst herstellte. Er vertrieb das Medikament übers Darknet und annoncierte in unzähligen Online-Gruppen. Er verdiente gutes Geld dabei. Früher habe er Veranstaltungen organisiert, erklärte er und berichtete überaus detailfreudig von den Risiken, die er damals tagtäglich auf sich genommen hatte. Ich konnte mir wirklich kaum vorstellen, wie gefährlich diese Arbeit gewesen sein musste, und bewunderte seinen früheren Heldenmut.
In seiner neuen Arbeit sähe er inzwischen jedoch mehr Sinn. Es sei nicht ganz legal, aber er kenne die richtigen Leute, die drückten gern ein Auge für ihn zu. Trotzdem müsse man wissen, worauf man sich bei der Einnahme des Präparates einlasse. Eine falsche Dosierung, und man lande schnell in der nächsten Notaufnahme. Dennoch, er tue es für das Wohl der Gesellschaft. Er bot mir an, mir nach dem Essen eine kleine Dosis zu spritzen. Begeistert stimmte ich zu.
Nach dem Diner, zu dem wir uns wieder um die mir schon fast heimelig vorkommende Riesentafel setzten, führte mir Reinas Mutter voller Stolz ihren neuen Sauerstoffkonzentrator im Keller vor. Wenn die Beziehung mit ihrer Tochter ernster werde, sagte sie, könne man ihn sogar zu zweit benutzen.
„Reina mag Sie sehr. Das kommt selten vor“, erklärte sie mir und sah mir dabei in die Augen. Mehr war von meinem Gesicht ohnehin nicht zu sehen.
Dann steckte sie mir eine kleine grüne Pille zu.
„Man weiß ja nie“, flüsterte sie. „Das hier ist zur Vorbeugung gut geeignet.“
Es war eine Remdesivir - aber ich solle ihrem Mann nichts davon erzählen, er schwöre auf sein gepantschtes Ivermectin.
Reinas Eltern wussten, wie man einen jungen Mann wie mich beeindruckte, und unsere gegenseitige Sympathie vertiefte sich zusehends.

Dann änderte sich die Stimmung.
Ihr Vater erklärte mir, man wolle ernsthaft mit mir reden. Man fände mich sympathisch. Er hätte ein gutes „Feeling“ mit mir. Er holte einen Stapel Papier heraus. Es waren die Ergebnisse meiner zuvor verlangten Proben.
„Ihre DNA-Analyse ergab, dass ihre Vorfahren aus guten Gegenden kamen. Pommern, Dänemark, Norwegen, Griechenland, Malta. Äußerst gute und viren-robuste Gene, die da in Ihnen schlummern“. Ich müsse nur noch an meinem Gewicht arbeiten. Ich sah betroffen an mir hinunter. Die Pausbacken waren gut unter meiner Waq’ollo verborgen, aber der Bauch ließ sich nur schwer verstecken.
Dann ergriff Reinas Mutter das Wort. Man habe erleichtert zur Kenntnis genommen, dass meine Blutgruppe – wie auch die Reinas - 0 sei. A’s und B’s seien internationalen Studien zufolge zu anfällig. Frühere Bewerber ihrer Tochter seien allesamt A’s gewesen und kamen für eine Familiengründung nicht in Frage. Man sei also hocherfreut, für die weitere Planung auf mich zählen zu dürfen.
Verwirrt blickte ich von einem zum anderen. Hatte ich an der Intensität meiner Gefühle für Reina oder an der Seriosität meiner Absichten etwa irgendeinen Zweifel gelassen?
Reinas Vater räusperte sich, es fiel ihm offenbar nicht ganz leicht, mir auf die Sprünge zu helfen: Sobald es einen wirksamen Impfstoff gäbe, werde man mich mit offenen Armen in die Familie aufnehmen, beteuerte er. Doch wer wisse schon, wann das sein werde, es könnten noch Jahre vergehen – und bis dahin könnte Reina eine alte Frau mit qualitativ minderwertigen Eileitern sein. Physische Intimität mit abschließender Befruchtung, so schön das auch sei, komme unter den gegebenen Umständen aber auch nicht in Frage. So etwas zu gestatten, wäre verantwortungslos ihrer Tochter gegenüber. Man biete mir jedoch die Hand Reinas an und die Möglichkeit, biologischer Vater ihres Kindes zu werden, via künstlicher Befruchtung. Ich könne in der Pre-Impfstoffzeit Zugriff auf eine Webcam an der Wiege haben, das Kind auch hinter einer Plexiglasscheibe sehen und später über Gegensprechanlage oder Zoom regelmäßig mit ihm kommunizieren.
Ich fühlte mich geehrt. Das Konzept überzeugte mich, und vor allem wollte ich eines Tages mit Reina zusammen sein, ganz oben ohne – also ohne Maske.
„Nun“, sagte ihr Vater, „falls Sie einverstanden sind - und es sollte mich sehr wundern, wenn nicht - müssten Sie nur noch eine Spermaprobe hinterlassen. Hier und jetzt. Um den Rest kümmern wir uns.“
Man wisse um die delikate Situation, fügte Reinas Mutter hinzu, und wolle mich auch nicht einfach so in den Keller schicken. Darum habe man vorgesorgt und eine Reihe Fotos von Reina anfertigen lassen, nur für mich, damit es mir leichter falle.
Reina selbst hatte den ganzen Abend lang kein einziges Wort gesagt. All dies schien ihr unangenehm zu sein. Ich sah jedoch nur ihre Augen, und die verrieten nicht viel darüber, was sie wirklich von der Sache hielt.
Man reichte mir einen A4-Umschlag, einen kleinen Plastikbehälter und eine Küchenrolle.
So ging ich ins Badezimmer, setzte mich auf den Rand der Badewanne und öffnete den Umschlag mit den Fotos. Sie zeigten tatsächlich einen nackten, schönen Körper, und das in verschiedenen, durchaus sexy Posen, einige davon so lasziv, dass ich mich fragte, ob man ihr etwas aus dem Labor ihres Vaters verabreicht hatte.
Eine Sache aber störte mich: Auf sämtlichen Fotos trug Reina ihre Holunderblütenmaske. Nirgends war die Maske auch nur einen Zentimeter gelüftet oder verrutscht. Ich dachte an die Träume, die ich von ihrer Nase und ihrem Mund gehabt hatte, meine Phantasien von Küssen auf ihr nacktes Kinn.
Ich versuchte mir diese Träume in Erinnerung zu rufen, ich wollte diesen Behälter füllen! Es ging aber nicht, es wollte partout kein Leben aufkommen.
Nach einer halben Stunde verließ ich das Bad mit gesenktem Kopf und leerem Becher. Reina und ihre Eltern saßen immer noch jeder in seiner eigenen Ecke im Wohnzimmer und blickten mir erwartungsvoll entgegen.
Als ich erklärte, dass ich unter diesen Umständen einfach nicht konnte, wie ich wollte, fing Reina zu weinen an und rannte aus dem Zimmer, gefolgt von ihrer Mutter.
„Unsere Tochter ist Ihnen wohl nicht attraktiv genug!“ empörte sich der Vater. „So eine schöne junge Frau. Was ist nur los mit Ihnen?“
Ich will es kurz machen: Als die Mutter mit einer Harke in der Hand erschien, entschloss ich mich zur Flucht.
Ich sah Reina nie wieder. Und wenn die Zeit des Maskentragens einmal vorüber sein sollte, würde ich sie sicher nicht an ihrem Gesicht erkennen.
Die Fotos habe ich trotzdem behalten.

CHRISTINE KAPPE



„Gewisse Szenen
spielt er jetzt mit einer ganz anderen Haltung“

Was echt ist


Wir wissen hier alle nicht mehr, was echt ist. Die Bühne schwankt. Die Bühnenbildnerin zeigt mir einen fetten Ring. „Sieht billig aus.“ - „Das ist ein altes Familienerbstück! ...Ach, ich werd den nicht los.“ Siggie spielt immer mit Sonnenbrille, meint, das würde seine Maske ersetzen. Ein Glas ist rausgefallen, doch er spielt hartnäckig seit Wochen mit der kaputten Brille weiter. Gewisse Szenen spielt er jetzt mit einer ganz anderen Haltung: Eigentlich ist Faust viel teuflischer als Mephisto & Mephisto der einzige aus dem ganzen Stück, der keinen Psychiater braucht.
Diese Geschäftigkeits-Flüster-Haltung der Assistentinnen!
Aber sie bringt uns weiter.

Auf der Bühne ist es entweder zu heiß oder zu kalt.
Manu hat ne neue Hose, ich bin nicht mehr auf dem Laufenden.

„Na, wie gehts?!“, die Kostümbildnerin, superkünstlich, erdrückt ihn fast, samt Maske. Ihre Assistentin sieht aus wie ein Vampir, kann dasselbe aber von einem Schauspieler behaupten, in den sie heimlich verliebt ist. Dann ist ja alles gut.

Alle lachen wieder. Der Intendant hat dafür keine Zeit, aber auch nicht für so kleinliche Probleme wie Hospitanten-Freikarten.
Wir müssen einen Basar machen, um durch den Verkauf von Kostümen und Requisiten wieder an Geld zu kommen. Womit wir dann allerdings spielen wollen, bleibt ein Rätsel.
Der Bühnenbildner hat mal im Schauspielhaus gearbeitet, beim Sommernachtstraum. Weiß, dass da noch ganz viel Kunstrasen rumliegt. Den könnten wir haben.

                                                            ***

Bei meiner Freundin sein, auf der Dachterasse, ihre Tochter trägt die Maske mit Stolz. Symbol unterirdischer Verkehrsmittel, die durch die Tunnel rasen wie Gewehrkugeln. Wenn man den Reportagen glaubt, kommt man dort näher an den Tod heran und versteht nachher mehr vom Leben. Von diesem schwarzen Loch, das der Erde so nah ist. - Ich übertreibe, ich weiß. Ob mein Bruder übertreibt? Jedenfalls ruft er nicht an.

Bei meinem Vater sein. Zusehen, wie er zwischen den Einzelteilen seines Lebens sitzt. Die Schreibtischschubladen liegen unterm Tisch, sein Pokal ist auseinandergeschraubt und vielleicht essbar. Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, mäandert durchs Zimmer. Das Bild von seinem Lieblingsvogel zerschellt in seinem Innern, doch er tut sich nicht weh. Das, was ihm wirklich wichtig ist, versteckt er unter der Bettdecke.


SYLVIA GEIST


"... und das ist keine ode, das ist die katzenkammer
in einer geschichte lange nach poe."

















poes katze.
aus einem kalender

20. März

heute ist nicht poetisch. kann es gar nicht sein. heute ist poetisch erst morgen. heute ist heute eher poe. auch das -tisch nicht vergessen. worauf nichts von poe liegt. morgen vielleicht - poes katze: eingemauert im heute, ein vergehen oder versehen. ehe ich mich´s versehe, vergehe ich mich, bin schon vergangen. wie auch immer, hatte poe eine katze?

22. März

poes  katze, das bin ich. eingemauert in meine unglückliche liebe zum freien. wohin ich nicht gelangt, wenn es sich dünn macht, höchstens als grammatikalische figur.
diese sehnsucht nach den gegenwartsmomenten, zählbar wie ein schwarm fliegen, aber verflucht gut verfugt. fast untastbar, unfassbar verfugt mit geschwindigkeit, der von fliegen: abrupt und verlässlich. dahinter ich, die zurückgebliebene katze, die an den fugen kratzt, bis etwas hindurchscheint. licht, anfassbar warm auf meinem fell, einer in der ferne – vor ferne – zärtlichen sonne.

29. März

schluss mit dem sublimen! poesie heißt krallen raus und drauf, ein wehrhafter, notwendiger akt. aber licht? es kann ebenso gut wasser sein, was durch die fugen dringt, oder zugluft, oder lärm. und der moment ist ja gut und schön, aber nichts ohne davor und danach, nichts ohne geschichte.
die geschichte von heute könnte aus dem wetterbericht bestehen: nach  grellen saharatagen ist es kühl und bedeckt, aber je weiter man nach osten kommt, desto heller wird's. nichts mit regen.

3. April

stille = nebengeräusch + erinnerung an stille
erinnerung + wahrnehmung – stille = nebengeräusch
wahrnehmung von stille = abwesenheit von erinnerung
stille = wahrnehmung von abwesenheit von stille = nebengeräusch
von erinnerung


9. April

die katze hat ihr feuer verloren. wie es scheint, hat sie alles vergessen. interesse, appetit, und sei es auf abwechslung, oder was zwischen mäusen und katzen zu sein hat, das spiel, die tat der jagd: vergessen wie ihren schöpfer hat sie diese dinge, oder wie der schöpfer von mäusen und katzen sie. tatenlos ist sie ein kühles nirvana, etwas, das anders ist, als es gedacht war. ein monster, oder nenn es alt.
die katze will jetzt milch. als monster ist sie jung.

15. April

heute wäre sie gern nerudas katze. die, in deren augen die nacht ihre münzen wirft.  stattdessen wirft die sonne ihre speere durch die mauerritze, und das ist keine ode, das ist die katzenkammer in einer geschichte lange nach poe.

24. April

wieder so ein morgen, an dem ich als die abgerockteste version eines gespensts aus dem geiste eines toten dichters erwache. dabei sitze ich in meinem hauptquartier an tausendundeinem schönen, blanken hebeln, während die geschichte von heute nur so abschnurrt: die wissenschaft kann wasser zu stein; die wirtschaft krankt an oligarchie; das virus hat einen namen. ich sehe mich schon einen hebel umlegen: die oligarchie blüht unter herpes dem soundsovielten; hermes heißt eine heuschreckenfressende orchidee; die wissenschaft kann wasser aus stein ...  die geschichte schnurrt weiter. die post bringt einen lichtblick.
auf sämtlichen pfoten schleiche ich hinein.

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